Kann eine Revision bei Verwerfung einer Berufung gem. § 329 Abs. 1 S. 1 StPO darauf gestützt werden, dass diese Vorschrift gegen Art. 6 EMRK verstößt?
Sachverhalt:
Ein Angeklagter wurde mit Urteil des Amtsgerichts Landshut wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt. Auf seine rechtzeitig eingelegte Berufung gegen dieses Urteil bestimmte das Landgericht Landshut Termin zur Verhandlung über die Berufung. Zu diesem Termin erschien der Angeklagte trotz ordnungsgemäßer Ladung ohne Angabe von Gründen nicht, sondern lediglich seine (ebenfalls geladene) Verteidigerin. Diese legte eine vom Angeklagten unterzeichnete Vollmacht zur Vertretung und Verteidigung vor und erklärte, zur Verteidigung bereit zu sein. Das Landgericht Landshut verwarf die Berufung durch das angefochtene Urteil nach § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO und führte aus, dass die Voraussetzungen dieser Vorschrift unzweifelhaft vorliegen würden und eine konventionsfreundliche Auslegung im Hinblick auf die Rechtsprechung des EGMR entgegen dem Wortlaut nicht möglich sei.
Entscheidungsgegenstand:
Hiergegen richtet sich Revision des Angeklagten. Er macht geltend, das Urteil verstoße gegen Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 lit. c) MRK. Aufgrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) sei § 329 Abs. 1 S. 1 StPO dahingehend auszulegen, dass die Gerichte im Fall des Nichterscheinens eines verteidigten Angeklagten dem Verteidiger allgemein die Möglichkeit geben müssten, den Angeklagten in seiner Abwesenheit zu verteidigen. Das OLG München hatte über die Revision des Angeklagten zu entscheiden.
Entscheidung und Begründung:
Das OLG München hat die Revision verworfen und zur Begründung ausgeführt, dass der EGMR in seiner neuesten Rechtsprechung zwar tatsächlich die Anwendung von § 329 Abs. 1 S. 1 StPO im Fall eines verteidigten Angeklagten für nicht mit Art. 6 Abs. 1, 3 MRK vereinbar erklärt, da ein Angeklagter sein Recht auf Verteidigung, welches zu den tragenden Grundlagen eines fairen Verfahrens gehöre nicht allein dadurch verliert, dass er zur Verhandlung nicht erscheint. Aber auch eine konventionswidrige Handhabung von § 329 Abs. 1 S. 1 StPO könne der Revision nicht zum Erfolg verhelfen, weil sie dem nicht auslegungsfähigen Wortlaut der Vorschrift entspräche, zu deren Anwendung auch der Senat aufgrund seiner Bindung an die geltenden Gesetze (Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG) verpflichtet sei. Die Europäische Menschenrechtskonvention stehe innerstaatlich im Rang eines Bundesgesetzes (vgl. Art. 59 Abs. 2 GG) und ist als Auslegungshilfe bei der Auslegung der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes sowie des einfaches Rechtes heranzuziehen. Dies gilt auch für die Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Die Heranziehung als Auslegungshilfe verlangt allerdings keine schematische Parallelisierung der Aussagen des Grundgesetzes mit denen der Europäischen Menschenrechtskonvention, sondern ein Aufnehmen von deren Wertungen, soweit dies methodisch vertretbar und mit den Vorgaben des Grundgesetzes vereinbar ist. Die Möglichkeiten einer konventionsfreundlichen Auslegung enden dort, wo diese nach den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung und Verfassungsinterpretation nicht mehr vertretbar erscheint oder der Wille des nationalen Gesetzgebers in der Gestalt von bestehendem Gesetzesrecht entgegensteht. Auch nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG zur vergleichbaren Problematik der Bindung an Richtlinien der EU und die Rechtsprechung des EuGH findet die Pflicht zur Verwirklichung des Richtlinienziels im Auslegungswege zugleich ihre Grenzen an dem nach innerstaatlicher Rechtstradition methodisch Erlaubten. Die Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall bedeute, dass § 329 Abs. 1 S. 1 StPO nicht entgegen seinem eindeutigen Wortlaut ausgelegt werden könne. Eine Vertretung des Angeklagten durch den Verteidiger sei deshalb nur in den Fällen des § 411 Abs. 2 S. 1 StPO zulässig, der hier nicht vorliegt.
Kommentierung der Entscheidung aus unserer Sicht:
Die Entscheidung verdeutlicht aufs Neue, dass national zu keinem Zeitpunkt ernsthaft in Frage gestellte Verfahrensnormen einer Prüfung durch den EGMR nicht standhalten. Es stellt dann der Sache nach einen wenig souveränen Umgang mit solcher Kritik dar, wenn man starr darauf abstellt, dass die Gerichte dazu gezwungen seien „das Gesetz“ anzuwenden. Dies stimmt auch nicht, da es dem Vorsitzenden selbstverständlich möglich gewesen wäre, auf das Ausbleiben des Angeklagten anders zu reagieren als durch eine Berufungsverwerfung.
Da es daher – anders als es die Begründung des OLG München vermuten lässt – ohne weiteres eine Möglichkeit gibt, in einer mit der EMRK in Einklang stehenden Art und Weise das Verfahrensrecht anzuwenden, ist auch die revisionsrechtliche Argumentation nicht zwingend. Diese ist vielmehr erkennbar davon getragen, dass die Mitglieder des Strafsenats der Ansicht sind, der EGMR habe in der Sache nicht Recht.
Ob die Richter des OLG München es gut fänden, wenn ein ihnen untergeordnetes Land- oder Amtsgericht in gleicher Weise rechtsgrundsätzliche Entscheidungen des OLG ignorieren würden, erscheint mehr als zweifelhaft.
Nun ist das OLG München zwar nicht unmittelbar dem EGMR untergeordnet, nichts desto trotz hat es aber die Rechtsprechung des EGMR zu akzeptieren. Die verfassungsrechtliche Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland wäre sicher nicht in Gefahr, wenn ein Berufungsgericht eine inhaltliche und damit revisionsrechtlich überprüfbare Entscheidung auch dann zu treffen hat, wenn ein Angeklagter nicht erscheint.